Gedanken
Mittwoch, 8. Juli 2015
Gedanken/43
Der kleine Vogel

Ich halte einen Vogel in der Hand. Er sitzt in meiner rechten. Meine Linke halte ich vorsichtig über ihn. Schützend, aber auch wie ein Käfig. Er beginnt zu zwitschern. Ganz leise erst, aber als er die Freiheit zwischen meinen Fingern sieht, wird er immer lauter, immer fordernder. Ich stehe hier ganz alleine mit dem kleinen Vogel. Um mich herum ist nichts außer Wiesen und Felder. Keine Straße, kein Lärm der Motoren, kein Mensch. Ein kleines, ganz seltenes Stücken der Natur, das der Habgier des Menschen noch nicht zum Opfer gefallen ist. Der perfekte Ort für einen kleinen Vogel, der sich nach ein bisschen Freiheit sehnt. Mehrmals zähle ich im Kopf bis drei, aber ich schaffe es nicht meine linke Hand anzuheben. Ich will ihn nicht gehen lassen. Langsam geht die Sonne hinter den Hügeln unter und färbt den Himmel orange und gelb. Ich spüre wie der Wind meine Haare zerzaust und immer stärker wird. Er gibt mir einen Schups von hinten, einen kleinen Anstoß.

Manchmal brauchen wir das - einen Anstoß. Jemanden, der uns weiter schiebt, wenn wir denken, dass wir jetzt am Ende des Weges angekommen sind und dass die guten Zeiten jetzt vorbei sind. Jemanden, der uns durch die Haare wuschelt und uns zeigt, dass da immer noch Liebe ist auch wenn wir unser Herz öffnen müssen und einen Teil der Liebe gehen lassen. Jemanden, der uns aufweckt und uns lebendig fühlen lässt.
Es gibt keinen Sinn in diesem Leben. Ich habe so oft darüber nachgedacht, aber am Ende stand immer dieser Satz. Es gibt keinen Sinn in diesem Leben. Manche mögen das vielleicht anders sehen, aber für mich steht das so fest. Denn egal, was du als den Sinn bezeichnest... letzendlich stirbst du. Und dann. Kein Fragezeichen. EInfach nur: Und dann. Denn es ist egal, wie du dein Leben gelebt hast, ob du glücklich warst oder nicht, ob du eine Familie hattest, alleine gelebt hast, ob deine Träume und Wünsche alle wahr geworden sind, ob du berühmt und erfolgreich warst, ob du als Bettler auf der Straße geendet hast. Und dann bist du tot. Ich könnte genau so gut jetzt sterben und es würde für mich keinen Unterschied machen. Ich möchte damit nicht sagen, dass jetzt jeder los rennen soll und suizid begehen. Ich wollte nur von Anfang an klar stellen, dass ihr meine Meinung über das Leben wisst. Ich sage absichtlich nicht versteht, denn ich verstehe mich eigentlich selber auch nicht so genau. Es geht mir ziemlich gut. Ich habe keine finanziellen Sorgen, ich habe nicht das schlechteste Abitur, ich habe eine Familie, die mich liebt und Freunde, die für mich da sein wollen, obwohl ich sie schon so oft alleine gelassen habe. Ich habe die Chance zu reisen und zu studieren. Ich habe Hobbys, in denen ich vielleicht kein Wunderkind bin, aber die mir immer helfen, wenn ich nicht gut drauf bin und die ich eigentlich immer und überall machen kann. Es geht mir ziemlich gut. Wenn man mich von außen betrachtet. Aber ich fühle mich nicht gut. Vielleicht liegt das an meiner verkorksten Einstellung zur Welt. Wem kann es schon gut gehen, wenn er keinen Sinn im Leben sieht? Vielleicht liegt es auch daran, dass ich immer alles schlecht rede, dass ich nicht begreife, wie gut ich es eigentlich habe, obwohl ich es sehen kann. Ich kann mein Herz in meiner Brust schlagen hören und ich kann meinen Puls spüren, aber es kommt mir so vor, als ob es nicht vollständig wäre. Als wäre nur noch der Teil da, der meinen Körper am Leben hält, aber der nicht fühlen kann. Wenn ich etwas gefragt werde, dann denke ich über die Antwort nach. Wenn mir jemand seinen Liebeskummer beschreibt, dann sage ich nicht "Er war sowieso ein Arsch" sondern frage mich, was jeder der beiden falsch gemacht haben könnte. Wenn ich vor einer Entscheidung stehe, frage ich mich nicht, wie sehr ich es will, sondern ich mache eine Pro - Contra - Liste in meinem Kopf. Ich bin ein Denker. Gleichzeitig bin ich aber auch ein Träumer. Ich kann tagelang irgendwo liegen und die Welt an mir vorbei ziehen lassen. Dann ist mein Kopf komplett leer und ich male mir all die schönen Dinge aus, die ich jetzt gerade machen könnte. Es ist nicht so als könnte ich nicht lachen oder weinen, es ist einfach so, dass es sich nicht anfühlt, als würde es von Herzen kommen. VIel mehr erkennt mein Gehirn die Situation und sagt mir welche Reaktion jetzt angemessen ist. Manchmal verkalkuliert es sich auch und dann findet mein Gegenüber mich komisch. Ich bin niemand, der die Blicke auf sich zieht und der gerne im Mittelpunkt steht. Ich bin niemand, den man ansieht und sich denkt: "Wow, das scheint ein nettes Mädchen zu sein!" Für die meisten bin ich merkwürdig. Für mich auch. Manchmal komm ich mit mir selber einfach nicht klar. Ich verstehe mich nicht und ich frage mich, wieso ich ausgerechnet so sein muss, wie ich bin und wieso ich nicht eins von den hübschen, talentierten Mädchen sein kann. Und dann rede ich mir ein, dass Gott es einfach nicht so gewollt hatte. Ich glaube an Gott. Vermutlich weil ganz tief in mir drin doch noch auf so etwas wie Bestimmung hofft. Ich habe auch meine Träume und meine Wünsche. Um genau zu sein, sind es eigentlich alles Wünsche bis auf einen. Und ich habe Angst, dass er nicht in Erfüllung geht. Weil das würde dann vielleicht auch das letzte bisschen Hoffnung aus meiner Seele schwemmen. Und wer will schon in einer Welt ohne Hoffnung leben?

Wenn ein Tier keine Hoffnung mehr hat, wenn es erkennt, dass es nicht mehr weiter leben wird, dann hört es auf zu zappeln. Der kleine Vogel in meiner Hand hat noch nicht aufgehört. Und ich will auch nicht, dass er aufhört. Ich steh am Ende meines Weges und vielleicht habe ich die Hoffnung auf einen neuen, besseren Weg schon fast aufgegeben. Aber ich kann spüren, wie da jemand hinter mir steht und mich anschupst. Jetzt muss ich nur noch heraus finden, wer das ist. Ich atme tief ein und zähle bis drei. Flüsternd rollen die Worte sich über meine Zunge und kommen aus meinem Mund. Langsam hebe ich meine linke Hand an. Der Käfig öffnet sich. Verwirrt, oder vielleicht auch überwältigt von der neuen Freiheit springt der kleine Vogel ein paar Mal auf und ab. Dann breitet er die Flügel aus und der Wind trägt ihn nach oben Richtung Himmel. Vollkommen alleine stehe ich im Sonnenuntergang, breite meine Arme aus und hoffe, dass der Wind auch mich eines Tages in die Freiheit hinaus trägt.

Permalink (2 Kommentare)   Kommentieren