Gedanken
Sonntag, 19. Juli 2015
Gedanken/44
Gedanken. Sortieren. Sie drehen sich im Kreis wie Lichter in einer Disko. Schwirren herum und verlieren sich im Schweiß der Tanzenden. Wie ein Strobo der die Sicht auf alles Fließende nimmt, schlagen sie immer wieder auf mich ein. Ein Gedanke. Schwarz. Ein Gedanke. Schwarz. Ein Gedanke. Schwarz.
Manchmal wünsche ich mir, es würde schwarz bleiben. Das Licht blendet mich und ich mache meine Augen zu. Ich werde angerempelt und von herumfliegenden Armen geschlagen. Augen wieder auf. Die Erleuchtung. Ganz schnell wieder Dunkelheit. Mit meinen Ellenbogen boxe ich mir einen Weg nach draußen und versuche dabei zu schweben, damit mir niemand auf die Füße treten kann. Draußen. Ruhe. Luft... Schwarz. Es ist so dunkel hier ohne die Gedankenblitze. Gähnende Leere in meinem Kopf. Nur das gleichmäßige, befreite Atmen. Ich höre mir eine Weile selber zu und stelle fest, dass es besser ist als jede Disco Musik. Die Türe hinter mir geht auf und bis sie wieder geschlossen ist, dröhnen die wummernden Bässe und die quietschenden Stimmen zu mir nach draußen. Ich versuche sie auszublenden und drehe mich im Kreis. In die andere Richtung, wie meine Gedanken. Vielleicht heben sich die Drehungen gegenseitig auf und ich kann endlich wieder normal sehen. Aber wahrscheinlich konnte ich das einfach noch nie. Jeder in der heutigen Gesellschaft behauptet unnormal sein zu wolllen, dabei sind sie alle gleich normal. Ich dagegen will normal sein. Die Frage ist nur, ob ich es bin. Ich vermute nicht. Ich bin Durchschnitt. Ist man mit Durchschnitt auch normal? Der Türsteher beachtet mich nicht einmal, denkt ich bin betrunken, obwohl ich den ganzen Abend nur Wasser in mich hinein geschüttet habe. Meine Gedanken verbieten mir Alkohol zu trinken, weil sie darin keinen Sinn sehen. Ich habe mal versucht mich gegen sie zu wehren, aber ich habe den Kampf verloren. Sie haben mich problemlos nieder gedrückt mit ihren scharfen Argumenten. Worte. Wenn es die Worte nicht gäbe, hätte ich keine Gedanken. Meine ganzen Probleme wären damit gelöst. Denn ohne Denken würde ich fühlen. Momentan fühle ich nämlich nicht. Selbst in einem überfüllten Keller mit halbnackten Menschen fühle ich nicht. Taubheit hat von meiner Seele Besitz ergriffen und lässt sie nicht mehr los. Umklammert mein Herz und legt es in Ketten, damit es nicht ausbrechen kann. Manchmal wünsche ich mir, es würde aufhören zu schlagen. Dann schlage ich mir aber immer selber, weil der Wunsch einfach idiotisch ist. Aber auch dann wären meine Gedanken endlich weg. Ich höre auf mich im Kreis zu drehen, weil ich merke, dass es nichts bringt. Mir ist schwindlig und ich taumle die Straße entlang wie ein Besoffener, der den Weg nach Hause nicht findet. Ich finde meinen Weg immer nach Hause. Es ist der Mittelpunkt meiner Welt. Nur heute kann ich nicht nach Hause gehen. Ich bin zu alt geworden, um dort bleiben zu dürfen. Es war meine gesellschaftliche Pflicht raus zu gehen und mich frei zu fühlen. Also bin ich gereist und habe neue Länder und neue Orte entdeckt, habe neue Menschen kennen gelernt und ... keine Freunde gefunden. Es war praktisch Leute meines Alters dort zu kennen, aber ich konnte sie nicht fühlen. Ich habe gemerkt, dass ich eigentlich nirgendwo Freunde habe. In diesem Moment hat die Taubheit die Ketten enger geschnallt und mein Herz hat angefangen zu bluten. Es hat geblutet, bis die Wunde verheilt und nur noch eine riesige Narme übrig war. Seit dem ist ein Teil meines Herzens leer. Wie ein Haus, das kein zu Hause mehr ist. Aber mein Herz schlägt weiter. Als wäre nie etwas geschehen. Ich stolpere schnell auf den Gehsteig zurück, als ein Auto mir entgegen kommt. Meine Gedanken haben mich gelenkt, ohne sie wäre ich wahrscheinlich schon gar nicht mehr am Leben. Sie sind präsent, immer und überall. Und sie lassen mich nicht los, lassen nicht zu, dass ich mich in der Gefühlswelt verirre um nie wieder zurück zu kommen. Wahrscheinlich wünsche ich es mir deshalb so sehr - weil ich es nicht haben kann. Ich liebe es mich zu verlaufen, weil man genau dann die schönsten Orte findet. Ruckartig bleibe ich stehen und frage mich, ob ich es vielleicht übertrieben habe. Mein ganzes Leben lang irre ich schon durch Straßen und Gassen, über Pfade und Wege und doch habe ich nie das Gefühl gehabt, dass es der richtige ist. Noch einmal drehe ich mich im Kreis, renne dann zurück, an dem Türsteher vorbei, in den Club hinein. Wummernde Bässe und quietschende Stimmen begrüßen mich, Leute treten mir auf die Füße und schlagen mich mit ihren herumfliegenden Armen. Und meine Gedanken sind endlich still.

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